Dear Esther – Die reinste Poesie

Eine verlassene Insel... ein einsamer Pfad... und nichts als Erinnerungen. Doch die Wahrheit liegt tief im Dunkeln verborgen. Willkommen bei Dear Esther, dem Storytelling-Experiment von The Chinese Room



Wir leben in interessanten Zeiten: Während die großen Publisher wie Ubisoft oder EA regelmäßig neue Grafikmonster auf die Spielewelt loslassen und sich dabei in Vielfalt und Größe ihrer virtuellen Welten ein ums andere Mal übertreffen, ist dennoch ausreichend Platz für die kleinen Entwicklerstudios und deren Projekte geblieben. Auf Vertriebsplattformen wie Steam tummeln sich daher nicht nur die Platzhirsche der Branche, sondern auch unscheinbare Spezies. Deren Qualität erkennt man oft erst bei näherem Hinsehen. Doch nicht selten lohnt sich der Blick. So auch bei Dear Esther.
Das Spiel vom Entwicklerteam The Chinese Room erschien 2012 für den PC und hat seitdem großen Anklang bei Spielern als auch bei Kritikern gefunden. Doch was heißt hier Spiel? Das Label Storytelling-Experiment würde eher zur Beschreibung passen. Denn eigentlich hat man nicht viel zu tun. Es gibt keinerlei Interaktion; keine Rätsel die gelöst werden müssen oder Gegner, die im Wege stehen. Wege – ja, die gibt es in der Tat in Dear Esther. Doch auch sie versprechen keine spielerische Freiheit. Stattdessen wird der Spieler auf einem festen Pfad durch die menschenleere Landschaft geführt.


Es ist eine karge Szenerie, die sich dem Reisenden bietet: Eine kalte Gischt peitscht gegen die schroffen Felsen. Gräser wiegen sich leicht im Wind. Wie ein Schleier haben sich die Wolken über die Küstenlandschaft gelegt. Eine Möwe zieht vorbei. Ansonsten herrscht Stille. Vor uns erkennen wir die Umrisse eines alten Leuchtturmes. Wie lange er wohl dort schon steht? Völlig zerfallen sieht er aus. Langsam nähern wir uns der Ruine. Hinter einem Fenster huscht plötzlich ein Schatten vorbei. Was war das denn? Sicher doch nur unsere Einbildung. Oder nicht? Doch dann hören wir eine sanfte Stimme: „Liebste Esther. Manchmal habe ich das Gefühl, diese Insel selbst geboren zu haben.“

Der Erzähler ist unser einziger Begleiter in Dear Esther. Aufmerksam lauschen wir jeder Silbe seiner Erzählung. Doch seine Geschichten sind nicht leicht zu verstehen: Von einem skandinavischen Ziegenhirten ist die Rede, der hier vor langer Zeit sein Ende fand, vom Heiligen Petrus und seiner Reise nach Damaskus... und von einem Autounfall. Wie all diese Dinge in Beziehung stehen, erfahren wir nicht oder nur in groben Fragmenten.


Die Gegenstände, die wir auf dem Weg finden, machen die Sache nicht einfacher. Überall an der Küste sehen wir chemische Formeln, die in allen erdenklichen Größen an die Felswände gemalt worden sind. Daneben leere Farbdosen. Ab und an finden wir auch Gegenstände. Doch was machen Ultraschall-Aufnahmen von ungeborenen Babys an diesem Ort? Es ist an uns, das Puzzle zusammenzusetzen. Vielleicht erfahren wir mehr am Ziel unserer Reise. Am Horizont erkennen wir eine Art Funkmast. Sein rotes Leuchten pulsiert in der Ferne. Ist es ein Zeichen? Und wenn ja, eines für das Leben oder für den Tod?
Dear Esther wird sicherlich nicht jedem gefallen. Das Spiel, das eigentlich keines sein will, bietet einfach zu wenig Interaktion mit seiner Umgebung. Darüber hinaus sei dem Spieler angeraten, aufmerksam zuzuhören. Viele werden sich daher wohl gelangweilt abwenden. Alle anderen erwartet großartiges Storytelling, wie es im Bereich der Videospiele selten anzutreffen ist. 

Wer einen Blick riskieren möchte, dem sei hier die Landmark-Edition empfohlen. Sie enthält verbesserte Grafiken und Sounds. Zudem ist auch ein Audiokommentar von den Entwicklern zu hören.



Bild und Video: The Chinese Room